Leseprobe: 2.500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Auf Jakobswegen vom Bodensee zum Ende der Welt

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2.500 Kilometer zu Fuß durch Europa

Am nächsten Morgen bekomme ich Gesellschaft: Wenige Schritte nach meinem Aufbruchvon der Pilgerherberge springt mir ein verwahrlostes, bellendes Energiebündel entgegen, das mich wie einen alten Bekannten begrüßt, den man seit Jahren nicht zu Gesicht bekommen hat. Als ich reflexartig das pechschwarze Zottelfell des Wesens tätschele, beschließt es offensichtlich, bei diesem netten neuen Herrchen zu bleiben. Einen halben Tag lang streife ich so mit einer liebesbedürftigen Rottweiler-Dobermann-Mischung durch Frankreich, die sich von Zeit zu Zeit an meine Beine schmiegt und den Umkreis von drei Metern um meine Person nur verlässt, um weidenden Kühen eine Heidenangst einzujagen, indem sie wie ein Besessener auf sie zu rennt und versucht, nach ihren Beinen zu schnappen. Ich nenne meinen neuen vierbeinigen Freund Kleber und male mir schon aus, wie wir beide die Pyrenäen empor hecheln, weil ich ihn nicht mehr loswerde, aber es sollte mal wieder anders kommen. Als Kleber nämlich gerade beschließt, eine Herde grasender Pferde anzufallen, erkenne ich die Gestalt eines Wanderers, der sich beim Näherkommen als Saquina entpuppt. So langsam bin ich nicht mehr erstaunt, dass wir uns immer wieder über den Weg laufen, mit der Zeit gewöhnt man sich an das Unerwartete. Kleber und ich sind von dem Neuankömmling begeistert, doch nach einer dreiviertel Stunde findet Saquina in dem zotteligen Fell die Telefonnummer des Besitzers, der seinen untreuen Wachhund im nächsten Dorf abholen kommt. Traurig blickt Kleber uns nach, als wir die letzten Häuser des Dorfes in Richtung Süden hinter uns lassen. Ich denke aber, dass Spanien letztendlich nichts für ihn gewesen wäre: zu wenig Kühe und zu heiß für ein zotteliges Untier.

Therèse, die Herbergsmutter von Miradoux, ist ein Phänomen des Jakobswegs. Jeden Abend ist ihr Haus voll mit Wanderern, ohne dass sie dazu irgendeine Werbung verbreitet. Stattdessen kann sie sich auf das „Pilgertelefon“ verlassen, auf die Mund-zu-Mund-Propaganda der Pilger, und so erfährt man bereits zwei, drei Tage, bevor man in Miradoux ankommt, dass die Abende bei Therèse lang, fröhlich und feucht sind, und dass man dort zusammen mit einem reichhaltigen Abendessen auch die alten Legenden des Jakobswegs und die aktuellen Neuigkeiten anderer Pilger serviert bekommt. Zu zehnt machen wir uns heute Abend über sechs Flaschen Floc de Gascogne her, ein Teufelszeug, das einem sofort die Zunge löst, ihr werdet’s erleben, wenn ihr mal bei Therèse seid, und sagt bloß nicht, ich hätte Euch nicht gewarnt. In der Nacht hat es nicht geregnet, und auch der Tag fängt trügerisch sonnig an. Schon denke ich, dass sich die Wolken Richtung Nordosten verziehen werden. Noch habe ich nicht gelernt, die Wetterzeichen richtig zu deuten. Gut gelaunt überquere ich gerade ein offenes Feld, als das Gewitter plötzlich losbricht. Im Laufschritt marschiert eine Armee aus pechschwarzen Wolken nur Meter über dem Boden auf mich zu, entreißt den Bäumen die Blätter, rüttelt energisch an den Stämmen und umzingelt mich mit einer nassen dunklen Wand, die kaum Sonnenlicht durchlässt. Ich bin so beeindruckt, dass ich erst nach meiner Regenjacke greife, als bereits tischtennisballgroße Hagelkörner auf den Boden prasseln. Fluchend hechte ich mich unter einen von Blitzen im Sekundentakt erhellten Baum, zumindest bringe ich noch die Geistesgegenwart auf, mir nicht den größten auszusuchen. Die Regenjacke nützt nichts, die Nässe dringt durch den Pullover und das T-Shirt bis auf die Haut, Wasserfäden rinnen meinen Nacken hinab, der Rucksack saugt sich voll, gewinnt spürbar an Gewicht. Ich nehme mir vor, dem Jackenhersteller einen Drohbrief zu schreiben, wenn ich hier rauskomme. Fünfzehn Minuten dauert der Spuk, dann lassen die Wolken plötzlich von mir ab, um neue Opfer in einem anderen Gebiet zu terrorisieren. Durchnässt und frierend flüchte ich mich im nächsten Dorf in das einzige Café und mache mir klar, dass ich heute schnell eine Unterkunft finden muss.

Conques ist ein kleiner Wallfahrtsort in unvergleichlicher Lage: Von den Aufwinden umschmeichelt balanciert es trotzig am Rande eines Abgrunds und bietet seinen Besuchern einen Blick auf die umliegenden bewaldeten Steilhänge, der einem den Atem nimmt. Conques präsentiert uns seine kopfsteingepflasterten Gassen wie Juwele und empfängt uns mit einer Armada traditionsreicher Bauwerke, deren Geschichte bis ins Mittelalter zurückreicht. Im imposantesten davon, dem Kloster, finden wir heute Zuflucht. Man hätte keinen besseren Ort finden können, um ein Kloster zu bauen: Durch die Fenster blickt man direkt in die Hunderte Meter tiefer gelegene Talmulde, während sich über einem der Himmel farbenreich bis in die Unendlichkeit streckt, und in diesem Zwischenreich fühlt man sich zuweilen seltsam schwebend, seltsam aufgehoben. Vielleicht gibt es keinen Ort, der unser Menschsein so gut zusammenfasst wie dieses Kloster, ob wir nun „eines Schatten Traum“ (Pindar), „Bürger zweier Welten“ (Schiller), „Herakles am Scheidewege“ (Prodikos) oder „ein unselig Mittelding von Engeln und von Vieh“ (Platon) sind.

Thomas Bauer: 2.500 Kilometer zu Fuß durch Europa - Auf Jakobswegen vom Bodensee zum Ende der Welt

Erschienen 2007 im Wiesenburg Verlag

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Über das Buch

69 Tage mit Schlafsack und zwei Skistöcken durch die Schweiz, Südfrankreich, das Baskenland und Nordspanien.

2.500 Kilometer hat Thomas Bauer zu Fuß zurück gelegt. Ausgerüstet mit Ranzen, Schlafsack und zwei Skistöcken ist er von seiner Studienstadt Konstanz aufgebrochen, um den Jakobswegen 69 Tage lang durch die Schweiz, Südfrankreich, das Baskenland und Nordspanien bis das Santiago de Compostela und an die galizische Westküste zu folgen. Unterwegs gerät er in militärisches Sperrgebiet, hilft in Südfrankreich, ein Schwimmbad zu bauen und findet Freunde, die er unter anderem "Komet" und "Kleber" nennt. Bauers pfiffiger, aus dem Leben gegriffener Humor sorgt für höchsten Lesegenuss. Stilsicher baut er immer wieder die Geschichten und Legenden der Jakobswege in seine persönlichen Erlebnisse ein und führt den Leser so die alten Pilgerstraßen entlang, die für den polyglotten Reisebuchautor das bisher einprägsamste Erlebnis waren.

Reaktionen

tageszeitung, 10.Juni 2006

Bauer ist ein neugieriger Pilger, der wissen will, wie weit ihn seine Füße tragen und was der Pilgerweg einem bringt, wenn man als Weitgereister praktisch alles Spektakuläre schon gesehen hat. Die Antwort: Begeisterung, viele persönliche Geschichten, neue Freunde und prägende Erlebnisse, Anstrengungen und Endorphine. Der Pilgerweg ist nichts, was man "konsumiert", schreibt Bauer, "es ist das Leben". Ein Leben, von dem Thomas Bauer schwärmt, als wär's die Liebe fürs Leben.

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