Leseprobe: Vientiane – Singapur

Per Rikscha durch Südostasien

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Zwischen Mut und Übermut: Thomas Bauers „Rikscha-Tour nach Singapur“, Teil 1

5 Länder, 3500 Kilometer: Per Fahrradrikscha ist Reisebuchautor Thomas Bauer durch Südostasien gefahren: Von Laos über Kambodschas Angkor-Tempel und Bangkok bis nach Singapur. Eine Reportage.

Ein gewaltiges Scheppern hinter mir kündigte den Lastwagen an, der sich die schlaglochübersäte Straße von Vientiane nach Savannakhet entlang quälte. Als das Ungetüm direkt neben mir war, drückte sein Fahrer zur Sicherheit mit beiden Händen auf die Hupe. Es hätte ja sein können, dass ich den Sechzehntonner nicht bemerkt hatte. Wann immer eine solche Hupe keinen Meter Luftlinie von mir entfernt ertönte, zuckte ich zusammen, während ein Pfeifen in meine Ohren fuhr und mein Magen heftig um die eigene Achse rotierte.

Im Straßenverkehr, das hatte ich gleich nach meiner Abfahrt aus der laotischen Hauptstadt Vientiane bemerkt, hörte die asiatische Höflichkeit auf. Jede Straße war in Wahrheit eine Rennstrecke. Es gewann, wer die lautere Hupe einsetzen und die kleinen Lücken im Verkehrsgewusel ausnutzen konnte. Ein Radfahrer bot grundsätzlich die Möglichkeit einer solchen Lücke, weil er immer noch ein paar Zentimeter nach rechts ausweichen konnte. Selbst wenn dort bereits der Straßengraben begann.

Vientiane–Singapur, das bedeutete eine Reise von einer Welt in eine andere. Hier die angenehm schläfrige Hauptstadt von Laos, dort hingegen das in die Höhe strebende, von klimatisierten Einkaufszentren durchsetzte Singapur. Der Spannungsbogen zwischen buddhistischer Gelassenheit und glitzerndem Größenwahn verleiht der Region derzeit einen besonderen Reiz. Vientiane–Singapur, das war das verrückteste Vorhaben, das ich jemals in die Tat umgesetzt hatte. Verrückt vor allem deshalb, weil ich mir für die Reise ein ganz besonderes Fahrzeug ausgesucht hatte. Die Firma SMIKE aus Luzern hatte mir eine ihrer Fahrradrikschas überlassen. Voll bepackt wog sie sechzig Kilogramm. Einhundert Kilometer wollte ich damit im Durchschnitt pro Tag bewältigen.

Schnell wurde deutlich, dass, wohin ich auch kam, die Anwesenheit eines weißhäutigen, langnasigen Europäers auf einem dreirädrigen Gefährt die Hauptattraktion des Tages darstellte. Kinder rannten zu Dutzenden neben mir her, Frauen winkten mir zu, Männer riefen mir Anfeuerungen in einer Sprache hinterher, die sie für Englisch hielten. Machte ich Pause, bildete sich augenblicklich eine Menschentraube um mich herum. Alle wollten das SMIKE anfassen, den Reifendruck testen, mit der Sitzlehne herumspielen und das seltsame Ding begutachten, das die Kilometerzahl angab. Konnte einer der Anwesenden ein paar englische Brocken, tauchte grundsätzlich eine Frage auf:

„Wo ist denn der Motor?“
„Es gibt keinen. Ich will selbst von Vientiane nach Singapur fahren.“
„Komm schon, irgendwo muss doch ein Motor sein!“

Bei diesen Worten drückte mein Gegenüber zumeist hoffnungsvoll auf dem Dynamo herum, bis er sich schließlich kopfschüttelnd abwandte und auf seinem japanischen oder thailändischen Moped davonstob.

Jeder Tag hielt eine Reise ins Ungewisse für mich bereit. Ich war umgeben von Menschen, doch kaum keiner von ihnen beherrschte Englisch oder eine andere mir geläufige Fremdsprache. Ich wusste nicht, ob und wo ich essen konnte, wo ich mich gerade befand und wie lange es bis zur nächsten Unterkunft dauern würde. Am übelsten waren die Kreuzungen. Sie tauchten unvermittelt auf und waren in den seltensten Fällen ausgeschildert. Als ich kurz vor dem Fischerdorf Pak Kading auf eine solche Kreuzung stieß, deutete ich nach rechts und fragte die Menge um mich herum: „Pak Kading?“. Ich erntete eifriges Nicken und zuckersüßes Lächeln. Schon wollte ich nach rechts abbiegen, da beschloss ich, die erhaltene Auskunft zu verifizieren. Ich deutete also nach links und fragte wieder: „Pak Kading?“. Eifriges Nicken und zuckersüßes Lächeln war einmal mehr die Reaktion, und mir wurde klar, dass mich keiner der Anwesenden verstanden hatte.

Ich entschied mich aufs Geratewohl für den rechten Weg und gelangte zum Glück tatsächlich nach Pak Kading und weiter in das Dorf Nam Thone. Die Sonne stand wie ein gelbes Auge am Himmel, als ich dort einfuhr. Wolken schienen hier Mangelware zu sein. Vermutlich befanden sich alle, wie so oft, in Europa und ganz besonders über Deutschland. Im Zickzack fuhr ich um Wasserbüffel, Hunde und Hühner herum, bevor ich Unterschlupf in einem Gästehaus fand, das umgerechnet zwei Euro pro Nacht kostete und entsprechend eingerichtet war, nämlich: gar nicht. Es verfügte ausschließlich über ein Holzbett, auf das ich meinen Mosquito Dome stellte, eine äußerst hilfreiche Konstruktion, leichter als ein Zelt und zuverlässig bei der Abwehr von Insekten aller Art. Sie hielt auch die Fledermäuse fern, die in den Wänden hausten und nachts im Raum umherschwirrten. Sodann betrat ich das erstbeste Straßenrestaurant – und traf dort endlich jemanden, der Englisch sprach. Ihr Name war Lham, vielleicht auch Lang oder Lam. Als sie mich erblickte, steigerte sie ihr Lächeln zu einem breiten Grinsen. „Hello, I love you, what do you want?“, flötete sie mir entgegen. Ich deutete auf gut Glück auf irgendwelche Töpfe, in denen Fleisch und Gemüse brutzelten. Es schmeckte vorzüglich; ich wunderte mich nur, warum alles so klein war. Eine Leber, die ich verspeiste, hatte beispielsweise nur die Größe eines Fingernagels. Ich winkte Lham, Lang oder Lam zu mir und fragte sie hoffnungsvoll: „Chicken?“ – „Rat!“, antwortete sie freundlich und zeigte mir einen Stock, auf den eines dieser Tiere gespießt war. Ich hatte soeben Ratte mit Gemüse gegessen.

Später fragte ich Lham, Lang oder Lam noch, ob sie wisse, wo Deutschland liege. Klar wisse sie das, gab sie zurück, Deutschland liege „after ocean“. Hinter dem Meer also, das war immerhin eine zutreffende Beschreibung. Bevor ich zurück zu meinem Zimmer mit den Fledermäusen ging, wollte ich noch wissen, ob hier jemals ein Tourist gegessen habe. Lham, Lang oder Lam strahlte mich an und schüttelte den Kopf. „Booo“, ließ sie vernehmen, was in diesem Land einer Verneinung gleichkam, „you are first!“

„Eigentlich bin ich ja gar kein Radfahrer“: Per Rikscha durch Südostasien, Teil zwei

Wenn es nur eine Straße gäbe, die diesen Namen verdiente!, dachte ich mir, als ich mich am nächsten Tag wieder auf den Weg machte. Mit jeder Stunde, die ich im Dreck und Staub kambodschanischer „Straßen“ unterwegs war, war ich verblüffter, dass ich noch immer eine Rikscha unter mir hatte. Mit zwanzig Stundenkilometern krachte mein SMIKE in badewannengroße Schlaglöcher. Der Beiwagen vollführte tollkühne Bocksprünge, wenn ein Stein oder ein Stück Holz unter sein Rad geriet. Auf den Abschnitten mit Wellblech wurden wir beide durchgerüttelt wie bei einem Schüttelfrost. Von oben bis unten mit Staub bedeckt gelangte ich schließlich nach Poipet, die letzte kambodschanische Stadt vor der thailändischen Grenze. Poipet unternimmt Einiges, um sein Image als schmuddeliger Sündenpfuhl aufrechtzuerhalten. Statt in Straßenbaumaßnahmen zu investieren, zog man vor einigen Jahren neben den aufgereihten Bordellen einen immensen Kasinokomplex hoch, dessen gepflegte Glasfront heftig mit den Bettlern und Minenopfern kontrastiert, die junge Thailänder vor der Eingangstür um ein paar Baht bitten.

Was für ein Wechsel fand hingegen statt, als ich nach Thailand gelangte! Unmittelbar nach der Grenze begann die Zivilisation, und nach den Entbehrungen der vergangenen zwei Wochen sehnte ich sie herbei. Ehre sei den thailändischen Straßenbauern, denn sie haben ganze Arbeit geleistet! Gelobt seien die Oreo-Kekse (ganz besonders die mit Erdnussbutter), die ich ab sofort wieder am Straßenrand kaufen konnte. Ein dreifaches Hoch auf den real existierenden Kapitalismus, der diese Errungenschaften ermöglicht hat! „One night in Bangkok, and the world’s your oyster“, sang ich lauthals, während ich der Hauptstadt entgegen fuhr. Es war gar nicht einfach, den näselnden Gesang des britischen Sängers Murray Head nachzuahmen, den ich immer wieder unter Einsatz meiner Fahrradklingel mit Queens „Bicycle Race“ kombinierte. Ab hier hatte ich keine Probleme mehr, etwas Essbares aufzutreiben: In Thailand scheint eine Hälfte der Bevölkerung permanent damit beschäftigt zu sein, für die andere zu kochen.

Dafür wurden die Bedingungen ab Bangkok zunehmend tropisch. Kokosnüsse fielen neben der Straße zu Boden. Linkerhand erstreckten sich Gummibaumplantagen. Mehrmals täglich ringelte sich eine Schlange die Straße entlang. Und meine Schokoladenkekse teilte ich während mancher Pause mit Makaken, die aus den angrenzenden Wäldern gekommen waren. Vor allem jedoch bedeutete die zunehmende Nähe des Äquators eins: Hitze. Schwüle Hitze. Hitze wie ein nasses Handtuch in der Sauna. Hitze, die vom Boden aufsteigt, von den Hügeln herabkriecht. Hitze, die sich um einen legt wie eine Zwangsjacke. Diese Hitze, in Kombination mit einer ungesund hohen Luftfeuchtigkeit, machte mir zusehends zu schaffen. Zehn Pedalumdrehungen nach meinem Aufbruch von Bangkok war ich schweißgebadet. Nach einer Viertelstunde schmiegte sich das T-Shirt um mich wie eine zweite Haut. Und nach einer Stunde hatte ich das Gefühl, ich zöge einen Streifen aus Schweiß hinter mir her. Dabei war es erst kurz nach neun Uhr morgens.

Einmal mehr waren die klimatischen Bedingungen etwas für Schlangen und Insekten, als ich Malaysia erreichte. Für einen Rad fahrenden Mitteleuropäer waren es gefühlte zwanzig Grad zu heiß, und die Tatsache, dass sich die Luft bereits kurz nach dem Aufstehen anfühlte wie ein heißer Wadenwickel, trug nicht wesentlich zur Leistungssteigerung bei. Hinduistische und chinesische Tempel, Kirchen und Moscheen ließ ich auf beiden Seiten der Straße hinter mir. Manchmal befanden sich die Gebäude von drei verschiedenen Weltreligionen in derselben Straße, in Sichtweite voneinander. Als ich die Hafenstadt Malakka erreichte, wurde es noch bunter. Die Straßen waren voller Löwen und Drachen. Reihen roter Lampions zogen sich von Haus zu Haus. Comicfiguren schmückten Schaufenster. Überall wurden mir paarweise Orangen entgegen gehalten, bis der Beiwagen meines SMIKE einem Obststand glich. Das Spektakel wird “Chinesisches Neujahrsfest“ genannt und würde die Stadt vier Tage lang in Atem halten. „Willkommen im Jahr der Ratte“, begrüßte mich der Inhaber des Hotels, in dem ich Unterschlupf gefunden hatte. Dieses Tier schien mich während meiner Rikschatour dauerhaft zu begleiten.

Das Tachometer meines SMIKE zeigte dreieinhalbtausend Kilometer an, als ich Singapur erreichte. Ich hatte geschafft, woran ich bis zuletzt gezweifelt hatte: Ich hatte diese Strecke in nur vierzig Tagen vollendet. Es war das ambitionierteste Vorhaben gewesen, das ich je in die Tat umgesetzt hatte. Immerhin besaß ich zuhause nicht einmal ein eigenes Fahrrad.

Eigentlich bin ich ja gar kein Radfahrer.

Thomas Bauer: Vientiane - Singapur | Per Rikscha durch Südostasien

Erschienen 2010 im Schardt Verlag

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Über das Buch

„Rikschatour nach Singapur“: In einer Fahrradrikscha ist Thomas Bauer dreieinhalbtausend Kilometer durch Südostasien gefahren. Von Vientiane, der Hauptstadt von Laos, ging es den Mekong entlang, durch Kambodscha, über die Tempelanlagen von Angkor und durch Bangkok die Ostküste Thailands hinab, hinein nach Malaysia und über die sagenumwobene Insel Penang bis nach Singapur.

Karte Reiseroute

Für den Reisebuchautor, der unter anderem der Donau per Paddelboot zum Schwarzen Meer gefolgt und zweieinhalbtausend Kilometer auf Jakobswegen durch Europa gelaufen ist, war die Rikschafahrt durch Südostasien die bisher exotischste und herausforderndste Reise, die er jemals unternommen hat.

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