Leseprobe: Mush!

Grönland per Schlittenhund

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Abenteuer am Rand der bewohnbaren Welt

»Awwuuuii«, ruft Inuuta mit mächtigem Bass und lässt die Peitsche über den Köpfen seiner dreizehn pechschwarzen Hunde knallen. Und nochmals: »Awwuuuii«, als ich auf den Schlitten steige und auf einem Bärenfell Platz nehme. Unter der arktischen Sonne scheinen Millionen Eiskristalle, die die Walrossbucht bis zum Horizont bedecken, einander Morsezeichen zuzufunken. Selbst durch die Gläser der Sonnenbrille hindurch schmerzt das gleißende Weiß die Augen. Reglos liegt die gigantische Ebene vor meinen Blicken: ein endloses Blatt unbeschriebenes Papier, das jemand um den Erdball gewickelt hat.

Es ist nicht einfach, nach Ittoqqortoormiit zu gelangen. Der kleinste und entlegenste Distrikt Grönlands befindet sich über achthundert Kilometer entfernt von der nächstgelegenen Siedlung, Tasilak. Verkehrsverbindungen über Land gibt es nicht. Von Herbst bis weit ins Frühjahr hinein kann man ausschließlich auf dem Luftweg anreisen: von Reykjavik mit einer Propellermaschine, dann per Hubschrauber über das größte Fjordsystem der Erde hinweg. 1925 gründeten siebzig Wagemutige die Siedlung, da ihnen an dieser Stelle besonderes Jagdglück vergönnt war. Bis heute ist Ittoqqortoormiit die Heimat von Jägern geblieben. Seine Bewohner haben gelernt, unter harschesten Bedingungen zu überleben.

Ein drittes Mal lässt Inuuta sein weit schallendes »Awwuuuii« hören, ehe er sich zu mir umdreht. »Ready?«, fragt er mich. Als ich nicke, ruft er etwas nach vorn, das wie »geck« klingt. Im selben Moment staubt überall um uns herum Schnee auf. Dreizehn Energiebündel stemmen sich mit vollem Körpergewicht in die Riemen. Wie ein Kaninchen springt der Schlitten hakenschlagend über das Eis. Sofort stürzt sich der Fahrtwind auf mich. Eisdurchzogene Luft prasselt gegen meine Wangen, nistet in Nase und Mund. Wie ein Raubtier fällt sie über die Ritze her, die sich nach jeder Drehung meines Kopfes zwischen der Mütze und der Schneebrille auftut. Hastig stülpe ich eine Skimaske über das Gesicht, dabei muss ich aufpassen, dass ich nicht seitwärts vom Schlitten falle, der nach wie vor den Schneesalsa tanzt.

Alle halbe Stunde dreht sich Inuuta zu mir um, als wolle er sich vergewissern, dass ich noch immer hinter ihm sitze. Er ist kein Mann der Worte; schwer rumpeln diese seine Kehle empor. Ohnehin sperrt sich Ostgrönländisch dem europäischen Sprachenverständnis; es knarzt wie eine defekte Tür im Wind. Unter uns knirscht das Eis wie Meeresbrandung, in die der Schlittenlenker seine kehligen Kommandos ruft. Der Himmel ist weißgrau, und weißgrau ist auch die Erde, auf der wir uns bewegen. Als seien wir samt dreizehn Hunden und einem fünfhundert Kilogramm schweren Schlitten in einen gigantischen Milchtopf gefallen.

Nach anfänglichen Schwierigkeiten mag ich das einseitige Menü, das uns die Arktis Tag für Tag auftischt. Stolz werfe ich mich in die Brust, als sei ich ein direkter Nachkomme von Erik dem Roten. Dieser kam um das Jahr 983 nach Grönland. Von ihm stammt die Landesbezeichnung: Mit der Mär vom »grünen Land« wollte er Siedler auf die Insel locken. Nun also trete ich in seine Fußstapfen, und ich habe keine Angst! Ich habe drei Spezialunterwäschen an, darüber eine wattierte Hose, zwei Fleece-Oberteile, zwei windabweisende Jacken und über alldem noch einen gefütterten Winteranzug. Damit sehe ich ein wenig aus wie die Taliban-Ausgabe des Rocksängers Meat Loaf, der sich den Künstlernamen »Fleischklops« aufgrund seiner Leibesfülle gegeben hat. Das Erstaunliche ist, dass ich trotzdem noch immer friere. Vielleicht war Erik der Rote, der auf manchen Zeichnungen mit nacktem Oberkörper abgebildet ist, doch ein etwas zäherer Hund als ich.
Allerdings fahren Inuuta und ich direkt auf dem Eismeer; das Thermometer zeigt minus zweiundvierzig Grad Celsius an. Ich spüre, wie sich das Blut aus meinen Zehen und Fingerspitzen zurückzieht, und mir wird klar, dass die nordische Einöde niemals gezähmt werden kann. Aus Dschungeln können wir Felder machen, schroffe Berge mit Skipisten überziehen, sogar die Wucht des Meeres lassen wir für uns arbeiten. Doch wer von uns kann eine Leere beherrschen? Wer kann die drückende, sich von allen Seiten aufdrängende Abwesenheit füllen, und mit wem oder was?
In allen Himmelsrichtungen liegen bis zum Horizont Eis und Schnee, eine unbegreifliche Weite und die Ahnung, dass dieses Land uns nicht bei sich haben will. Dass es uns höchstens duldet, aber eigentlich auf andere Lebewesen ausgerichtet ist: auf Eisbären und Walrosse und Moschusochsen, unförmige, fellbehangene Kolosse – vielleicht auch auf die Dämonen und Geister, die die Inuit seit jeher im Inlandeis vermuten.

Immerhin setzt Inuuta der Unwirtlichkeit der Landschaft einen rudimentären Luxus entgegen. Während einer Pause entzündet er einen Petroleumkocher, auf dem wir »arktischen Toast« zubereiten. Dafür rammen wir tiefgefrorenen Toastscheiben ein Messer in die Seite, halten sie über die Flamme und belegen sie anschließend mit halbgefrorenem Dosenfleisch, dessen Haltbarkeitsdatum auf Zeiten verweist, in denen Gerhard Schröder Kanzler war. Als weiteren »Leckerbissen« kramt Inuuta Eisbärfleisch hervor, das wir genauso zubereiten. Es schmeckt wie eine Mischung aus alter Schuhcreme und einem trockenen Lederlumpen. Keine Sorge, Sie haben nicht viel verpasst.

In Inuuta spiegelt sich der Grundrhythmus der Arktis. Routinemaßnahmen – Hunde abschnallen, Schnee schmelzen, Lager bereiten – reihen sich aneinander, werden aber unvermittelt unterbrochen von Momenten höchster Spannung. Wer in dem Bruchteil der Sekunde, in dem eine Robbe auftaucht, ein Riss durchs Eis fährt, die Konturen eines Bären im Schnee sichtbar werden, nicht das Richtige tut, geht unter. Tagelang hält das Leben den Atem an, um ein auf das Extremste komprimierte Erleben plötzlich umso lauter hinauszuschreien. Wochenlang Claude Monets Wasserpflanzen, dann plötzlich Edvard Munchs Schrei. Monatelang »Das Traumschiff«, dann ohne Vorwarnung Bruce Willis. Das ist der Takt, den dieses gigantische Land allen Lebewesen vorgibt.

Die Schlittenleine ist bis kurz vor dem Zerreißen gespannt, als wir unsere Fahrt fortsetzen. Mit jeder Faser ihres Körpers verkörpern die Hunde, woraufhin ihre Rasse in einem über zweitausendjährigen evolutionären Auswahlprozess getrimmt wurde: unglaubliche Lasten bei brutaler Kälte durch eine lebensfeindliche Einöde ohne festen Boden zu ziehen. Entgegen einer weitverbreiteten Meinung haben die knapp dreißigtausend grönländischen Schlittenhunde nichts mit Huskies zu tun. Schon gar nicht ähneln sie den verzärtelten Züchtungen, die in unsere Breiten leben. Stattdessen stammen sie direkt vom Wolf ab und können daher nicht bellen. Wenn sie raufen, schlagen sie einander die Zähne in die Flanke. Ohne zu zögern würden sie einen ausgewachsenen Bären angreifen. Bei minus fünfzig Grad legen sie sich in den Schnee und schlafen. Am nächsten Morgen ist ihr Fell mit einer Eisschicht überzogen. Sie stehen auf, schütteln die eisige Hülle ab und freuen sich aufs Weiterziehen. Eine Vermischung mit Artgenossen, die südlich des Polarkreises aufwachsen, zöge drakonische Strafen nach sich. An nordgrönländische Schlittenhunde darf nichts Weiches, nichts Zurückhaltendes, nichts Zweifelndes kommen.

Inuutas Leithund, ein zotteliges Muskelpaket, weiß, dass die Peitsche des Schlittenlenkers nicht bis zu ihm reicht. Diese braucht es auch nicht, da das Tier augenblicklich auf die raubeinigen Angaben seines Herrchens reagiert. Obwohl der Leithund am weitesten von Inuuta entfernt läuft, ist die Bindung zwischen diesen beiden am stärksten. Ihr Vertrauen in den jeweils anderen ist der Kitt, der die Hundeschlitteneinheit zusammenhält. »Er sieht zwar wild aus«, gibt Inuuta zu, als wir uns bei einer Pause je zwei Tafeln Schokolade einverleiben, »doch eigentlich kann mein Leithund richtig zutraulich sein. Überzeug dich selbst!«.

Der Leithund sträubt die Haare und lässt ein grollendes Gurgeln hören, als ich mich ihm nähere. Vorsichtig lege ich ihm meine Hand auf den Rücken. Gewaltige Muskeln arbeiten direkt unter seiner Haut. Als er die Pfote hebt, um sie mir in die Hand zu legen, wölbt sich der Bizeps nach außen, und als er sich spielerisch an meinen Beinen reibt, muss ich mein Gewicht fest in den Boden stemmen, um nicht zur Seite geschoben zu werden. Grönländische Schlittenhunde sind die Arnold Schwarzeneggers ihrer Art.

Und ich bin im selben Moment ein Teil des Gespanns geworden. Ja, ich möchte am liebsten nur noch auf schneeumrankten Schlitten vorwärtsgleiten, gezogen von Inuutas »wilder Dreizehn«! Als sie merken, dass wir die Pause beenden, stimmen die Hunde ein melodiöses Jodeln an. Aufrecht stehen Inuuta und ich auf dem Schlitten, wie ein Surfbrett wollen wir ihn heute über das Eismeer jagen: vorneweg die schwarze Wolke und dahinter wir, aufrecht wie die Wikinger. Inuuta blickt mich an, und zum ersten Mal meine ich etwas wie Anerkennung in seinem Gesicht zu erkennen. Er nickt mir kaum merklich zu. Ich ziehe die Mützen tief ins Gesicht und drücke meine Schneebrille fest auf die Augen. »Geck«, rufe ich dann nach vorn.

Mit einem hellen Vibrieren spannt sich das Seil. Überall um uns herum staubt Schnee auf. Der Schlitten tanzt über das Eis, und wir sind wieder unterwegs, werfen uns neuen grandiosen Abenteuern entgegen.

Thomas Bauer: Mush! Grönland per Schlittenhund

Erschienen 2012 im Wiesenburg Verlag

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Über das Buch

Mit dem Ruf »Mush! Mush!« treiben die Jäger in Nordostgrönland ihre Schlittenhunde zu Höchstleistungen an. Reisebuchautor Thomas Bauer ist mit ihnen gezogen. Auf siebzig Grad Nord begleitet er den Inuit-Musher Inuuta, zieht auf Schneeschuhen über das Packeis, nimmt an einer traditionellen Robbenjagd teil und lernt Eisbärfleisch schätzen.

Eindringlich erzählt Bauer, wie er in eine Jägergesellschaft am Rand der bewohnbaren Welt eintaucht, die viele ihrer uralten Sitten und Gebräuche in die heutige Zeit hinübergerettet hat. Er lässt berühmte und weniger bekannte Polarforscher, die Ostgrönland geprägt haben, zu Wort kommen und versucht zu ergründen, was sie in die frostige Einöde getrieben hat. Spektakuläre Bilder illustrieren Bauers Abenteuerbericht aus einer Region, die sich größtmöglich von der europäischen Zivilisation unterscheidet und gerade darum zum Sehnsuchtsort der Abenteurer und Fernsüchtigen geworden ist.

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