Leseprobe: Nurbu

Im Reich des Schneeleoparden

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»Schan«, knurrte seine Mutter zärtlich, als sie lautlos hinter ihm auftauchte. Und noch einmal: »Schan«, als sie direkt neben ihm war. Bewundernd blickte er zu ihr auf. Seine Mutter war unangefochten die Herrscherin über alles, was er von hier oben aus sehen konnte. Einer Königin gleich schritt sie die Höhengrate entlang, wie ein Schatten schmiegte sie sich an Felsen, ohne zu zögern rutschte sie die steilsten Berghänge hinab. Mitunter kam es Schan vor, als sei alles auf dieser Welt nur für sie gemacht worden. Der Schnee schluckte alle Geräusche, sodass ihre Beute arglos blieb. Die engen Durchgänge zwischen Felsen ließen Wege, durch die sie mühelos glitt, für andere zur Sackgasse werden. Im Schatten, hinter schroffen Felsen versteckt, entdeckte sie niemand, selbst wenn sie sich bewegte. Die Abhänge nutzte sie, um wie ein Blitz auf die vier Körperlängen unter ihr grasende Beute zu springen. Ihr Fell ließ die Kälte, in der andere zitterten, nicht an sie herankommen. Ja, selbst die Sonne half ihr, indem sie, reflektiert vom Schnee, die Grassucher blendete.

Stolz blickte er ihr nach, wenn sie auf die Pirsch ging. In der letzten Zeit durfte er sie begleiten, bis kurz vor die Beute kam er mit. Dort angekommen, legte er sich in den Schatten eines Felsens und verschmolz vollständig mit der Umgebung. Er liebte diese Momente, in denen er weit hinab ins Tal blicken konnte, während er selbst für alle anderen Lebewesen unsichtbar blieb. In diesen Augenblicken empfand er eine Stärke, die sich zuweilen so grotesk steigerte, dass er sich allen Ernstes für unverwundbar hielt.

Leseprobe-02-tmbDoch seiner Mutter konnte er nichts vormachen. Sie spürte ihn auf, selbst wenn sie von einer langen Jagd zurückkam und er in der Zwischenzeit fünf Felsen weiter gekrochen war. In ihr hatte er seine Meisterin gefunden.

Einst hatte ihm seine Mutter erzählt, dass die Eltern der Grassucher ihre Schützlinge zu beruhigen suchten, wenn diese Gerüchte vom gefleckten Räuber aufschnappten. »Nur ein Märchen, meine Lieben, das ist nur ein Märchen«, erklärten sie, wenn die Kleinen sie nach dem Phantom der Berge fragten. »Oder habt ihr etwa je einen von ihnen gesehen?«

Schan lächelte in sich hinein und gähnte zufrieden. Ein grausamer Zug legte sich für einen Moment um seine Mundwinkel. Er wusste genau: Sobald die kleinen Grassucher seine Mutter sahen, war es bereits zu spät für sie.

Heute aber trug seine Mutter kein Fleisch zwischen den Zähnen, als sie hinter ihm auftauchte und ihn zärtlich anknurrte. Ihr zweiter Ruf kam Schan beinahe wie eine Entschuldigung vor. Trotzdem murrte er nicht und stellte seiner Mutter keine Fragen. Seit einiger Zeit stieß sie ihn weg, wenn er etwas von ihr wissen wollte. Unwirsch wischte sie seine Unsicherheiten zur Seite, wie sie es mit Steinchen tat, die in ihrem Weg lagen. Bei der letzten Frage hatte sie ihn gar mit der Vordertatze in die Flanke geknufft; die Stelle tat ihm jetzt noch weh. Dabei hatte er nur harmlos nach seinem Namen gefragt.

Er wusste natürlich, dass am Anfang alle Schneeleoparden Schan hießen. Das war das Geräusch, das die bunten Zweibeiner machten, wenn sie einen von ihnen sahen. Irgendwann jedoch bekamen sie alle eigene Namen. Schan begriff einfach nicht, was er tun musste, um nicht mehr Schan zu heißen.

»Wann bekomme ich einen neuen Namen, Mama?«, hatte er gefragt.

»Das weiß ich nicht!«

Ein kurzes Fauchen war das gewesen, keine Erklärung.

»Aber, Mama, was muss ich tun, um endlich anders zu heißen?«

»Als Allererstes musst du aufhören, dumme Fragen zu stellen!«

Die Vorderpfote seiner Mutter hatte so schnell gezuckt, dass er sie kaum bemerkt hatte, dann war ein Schmerz in seiner Flanke aufgeglüht.

Leseprobe-03-tmbSeit diesem Vorfall hatten sie nicht mehr miteinander gesprochen. Umso erleichterter nahm Schan nach der missglückten Jagd das doppelte Friedensangebot seiner Mutter an. Er schmiegte sich an ihre Seite, schnurrte behaglich und sandte ihr eine Stimmung zu, die nach Stolz und nach tiefem Vertrauen roch. Dann trottete er seiner Mutter erhobenen Hauptes voran. Er kannte den Weg zurück zur Höhle. Seine Welt war wieder im Lot. Schan ahnte zu diesem Zeitpunkt nicht, wie bald sie erneut erschüttert werden würde.

Kaum hatten sie die Höhle erreicht, legte sich seine Mutter auf die Seite und schloss die Augen. So hatte er sich das aber nicht vorgestellt! Er rempelte seine Mutter mit der Schulter an, um klarzustellen, dass er zu spielen wünschte.

Als sie auch beim dritten Mal nicht reagierte, verließ er trotzig den Bau, um einige der Gefiederten zu jagen, die sich zuweilen ihrer Höhle näherten. Als er am Ausgang zögerte und verstohlen einen Blick zurückwarf, meinte er für einen

Moment, dass seine Mutter ihn unter halb geschlossenen Lidern ansah. Er drehte sich um, aber seine Mutter bewegte sich nicht, sie schien wirklich zu schlafen. Schan schnaubte, warf den Kopf in den Nacken und marschierte dann den Schneeflocken entgegen, die gerade vor dem Höhleneingang ein Ballett aufführten.

Früher war seine Mutter niemals mürrisch gewesen. Wenn Schan sie auf der Jagd begleitete, wenn er im Schatten eines Felsens unsichtbar wurde für alle außer für sie, dann kam es vor, dass er die Augen schloss und sich weit zurückerinnerte. In Gedanken reiste er dann in die Welt der Gerüche und Geräusche, aus der er einst gekommen war. In dieser Welt war das Schnurren und das Knurren seiner Mutter alles gewesen, was zählte. Schnurrte sie, kroch er auf das Geräusch zu und folgte seiner Nase, die ihn zum köstlichen, nahrhaften Lebenssaft brachte. Dann durfte er sich tief hinein in das warme, weiche Fell schmiegen, sich darin zusammenrollen und alles andere vergessen. Knurrte sie hingegen, legte er sich augenblicklich flach auf den Boden und gab keinen Mucks mehr von sich.

Schan erinnerte sich auch daran, dass zu Beginn ein weiteres Fellknäuel da gewesen war. Manchmal war es auf dem Weg zur Milch schneller gewesen als er selbst. Dann half alles Wimmern und Flehen nichts: Er musste warten, bis er am Zug war.

Einmal hatte seine Mutter erneut geknurrt, lauter und eindringlicher als je zuvor, und Schan hatte sich augenblicklich geduckt. Er hatte sich auf den Boden gepresst, als wolle er eine Mulde in den Stein drücken, den er unter sich gespürt hatte. Das Fellknäuel neben ihm hatte hingegen seine Angst nicht verbergen können. Es hatte nach seiner Mutter geschrien, die gefaucht hatte wie ein Dutzend Schneeleoparden zusammen. Es hatte auch dann noch geschrien, als Schan zwei große Körper ineinanderkrachen gehört hatte, und auch noch, als es hinweggetragen worden war und seine Stimme immer leiser zu vernehmen gewesen war.

Obwohl Schan reine Panik in sich aufsteigen gespürt hatte, war er völlig reglos auf seinem Stein kleben geblieben, bis er etwas Feuchtes an seinem Genick gespürt hatte. Schon hatte er wild um sich schlagen wollen, als er den Atem seiner Mutter erkannt hatte. »Schan«, hatte sie mit neuer Zärtlichkeit in der Stimme gesagt. Und noch einmal: »Schan«, bevor sie ihn vorsichtig mit den Zähnen aufgenommen und davongetragen hatte. Kurz darauf hatte er zum ersten Mal die Augen geöffnet.

Schan zuckte zusammen, als er eine Bewegung hinter sich wahrnahm. Hatte er nicht die Gefiederten jagen wollen? Stattdessen schien er kurz eingenickt zu sein. »Mein Kleiner«, sagte seine Mutter und schickte eine Stimmung zu ihm, die nach großem Ernst und nach keiner Widerrede roch, »es ist Zeit, dass du die vier edlen Prüfungen bestehst.«

Sofort war Schan hellwach. Die vier edlen Prüfungen! Das klang spannend. Endlich wurde ihm etwas geboten! Andererseits bereitete ihm das Wort »bestehen« eine leichte Sorge, da es irgendwie beinhaltete, dass man etwas vielleicht auch nicht erreichte. Tausend Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Doch der Geruch, den seine Mutter ausströmte, machte ihm im selben Augenblick klar, dass diese vorerst unangebracht waren. Also schluckte er seine Unsicherheit hinunter, richtete sich auf, warf sich in die Brust und sagte mit einer Stimme, von der er hoffte, dass sie souverän und wagemutig klang: »Gut, dann zeig mir diese Prüfungen!«

Seine Mutter blickte ihn lange an. Sie schätzte ihn mit ihrem Blick ein, wog das Für und Wider gegeneinander ab, das ein Bestehen oder Nichtbestehen der Prüfungen wohl mit sich brachte. Schan wurde es unbehaglich, doch er mühte sich, reglos dazustehen, noch immer mit geschwellter Brust, den Kopf hoch erhoben. Und wie immer merkte er nach einiger Zeit, dass er nicht etwa so stolz dastand, weil er mutig war, sondern dass er mutig wurde, weil er so stolz dastand.

Leseprobe-04-tmbNach einer halben Ewigkeit leckte ihm seine Mutter zärtlich übers Fell. »Komm«, sagte sie. Er folgte ihr zum Felsendach, einer Erdmulde, über der sich zwei Felsen umarmten, sodass an dieser Stelle weder Regen noch Schnee den Boden erreichten. Von hier aus hatte er manchem Gefiederten aufgelauert und vor allem in letzter Zeit auch einige davon erwischt. Seine Mutter blieb direkt vor der Mulde stehen und drehte sich zu ihm um.

»Schan, eins muss ich dir noch sagen: Die vier edlen Prüfungen werden dir unendlich grausam vorkommen. Du wirst dich fragen, warum du dir das antun musst. Unzählige Male wirst du unterwegs aufgeben wollen. Aber denk daran, dass alle Schneeleoparden die vier edlen Prüfungen bestehen müssen und dass dies die Voraussetzung dafür ist, dass du eines Tages nicht mehr Schan heißen wirst. Alles, was du erlebst, nachdem du die vier edlen Prüfungen bestanden hast, wird dir leichter als zuvor vorkommen. Weil du ein stolzer und starker Vertreter unserer Art geworden sein wirst!«

Schan schluckte, doch er hielt dem bohrenden Blick seiner Mutter stand. Seit einiger Zeit fühlte er sich jedes Mal, wenn er aufstand, ein bisschen stärker. Er spürte, wie die Kräfte in ihm wuchsen.

»Den Zeitpunkt der ersten Prüfung bestimmst du allein, Schan. Darum frage ich dich jetzt: Bist du wirklich bereit?«

Was würde auf ihn zukommen, nachdem er diese Frage mit »Ja« beantwortet hatte? Musste er unter dem Felsendach gegen jemanden kämpfen? Gegen einen der grauen Mondanheuler vielleicht? Ein ganzes Bündel Fragen schwirrte durch seinen Kopf. Doch mochte kommen, was wollte: Er war zu jedem Kampf bereit. Also reckte er den Hals und gab seiner Mutter die erhoffte Antwort. Sie nickte, langsam. Als habe sie seine Gedanken erraten, bemerkte sie: »Während dieser ersten Prüfung wirst du dir mehrmals wünschen, lieber gegen ein ganzes Rudel grauer Mondanheuler gekämpft zu haben, als das zu erleben, was jetzt vor dir liegt. Die erste ist die schwerste aller Prüfungen, auf ihr bauen alle anderen auf. Ja, Schan, ich habe meine eigene Mutter gehasst, als sie mich durch diese Prüfung geschickt hat! Das Schlimmste an ihr, das wirst du rasch merken, ist, dass du nicht weißt, wann sie zu Ende ist. Bedenke bei allem, was du tust, dass ich dich von der Höhle aus beobachten werde.«

Leseprobe-05-tmbBei den Worten seiner Mutter begann Schan, ungeduldig von einem Vorderbein aufs andere zu treten. Was mochte unter den beiden Felsen nur auf ihn warten? Welches Lebewesen konnte so furchtbar sein, dass die kleinen Schneeleoparden ihre Mütter dafür hassten, sie in den Kampf gegen sie geschickt zu haben?

»Die erste Prüfung ist erst zu Ende, wenn ich dich hier abhole, Schan. Sie endet keinen Lidschlag früher. Kriech jetzt unter den Felsbogen. Du kennst ihn ja gut. Kriech darunter und leg dich flach auf den Boden.«

Schan tat, wie ihm geheißen wurde. Die Mulde war eben groß genug, dass er sich hineinlegen konnte. Von diesem Versteck aus konnte er ein Stück des Himmels sehen, wenn er den Kopf ein wenig verrenkte. Welches Tier aber mochte ihn hier unten angreifen?

»Liegst du bequem?«, unterbrach die Mutter seine Gedanken.

»Oh ja, es ist toll hier drinnen! Und jetzt?«

»Das ist es.«

»Ist was?«

»Das ist die erste Prüfung.«

»Die erste Prüfung besteht darin, sich einfach hinzulegen?«

»Nein, Schan: Die erste Prüfung besteht darin, liegen zu bleiben, bis ich dich abhole.«

Nach diesen Worten machte seine Mutter kehrt. Er hörte, wie sich ihre Schritte entfernten. Dummerweise hatte er sich so herum in die Mulde gelegt, dass er die Höhle nicht sehen konnte.

Was für eine dumme Prüfung, dachte Schan. Mehr traute ihm seine Mutter also nicht zu. Er würde nicht gegen einen der grauen Mondanheuler zu kämpfen haben, nicht einmal gegen einen der listigen Schweiflinge, die praktisch nur aus einem buschigen, rotbraunen Schwanz bestehen und sich hundert verschiedene Ideen einfallen lassen, um an Essen zu kommen.

Leseprobe-06-tmbDer Gedanke an die Schweiflinge erinnerte Schan daran, dass er selbst seit einiger Zeit keinen Bissen mehr zwischen die Zähne bekommen hatte. Warum hatte er vorhin nicht die Gefiederten gejagt, wie er es vorgehabt hatte? Jetzt musste er dafür büßen. Wollte ihm seine Mutter eine Lehre erteilen? In jedem Fall schmeckte es ihm gar nicht, regungslos in diesem Loch zu liegen, während es draußen doch so viel zu entdecken gab.

Kurz darauf begann sein linkes Hinterbein wie verrückt zu jucken. Schan zuckte zusammen, doch er blieb gekauert liegen. Erst als ihn der Schmerz übermächtigte, rieb er sein Hinterbein vorsichtig am Boden. Das half ein bisschen, kurz darauf spürte Schan jedoch einen Juckreiz am Rücken. Er überlegte, ob er aufstehen und seine Oberseite an einem der beiden Felsen reiben sollte. War er wirklich bereit für diese Prüfung? War Juckreiz vielleicht nicht vorgesehen gewesen und darum ein guter Grund, sie abzubrechen? Nein, vor genau diesen Gedanken hatte ihn seine Mutter gewarnt! Und er wollte, er durfte sie nicht enttäuschen. Alles in ihm wollte aufspringen, doch Schan biss die Zähne zusammen und blieb reglos liegen. Tatsächlich zog sich der fürchterliche Juckreiz beleidigt zurück, als er merkte, dass sich niemand um ihn kümmerte, bis er schließlich ganz verschwand.

Als seine Gedanken wieder freie Bahn hatten, merkte Schan, dass ihm nichts einfiel, mit dem er sich beschäftigen konnte. Was gab es denn schon zu tun hier drinnen? Er konnte keine Gefiederten jagen, nicht herumtollen, ja nicht einmal mit jemandem sprechen konnte er. Wer hätte ihm auch zugehört?

Schan blickte durch den Ausgang hindurch zum Himmel und bemerkte, dass drei Sterne dorthin gesprungen waren. Ihr Licht flackerte hinter den Wolkenfetzen, die in rascher Abfolge zwischen ihm und dem Himmel durchzogen. Schan erinnerte sich daran, wie seine Mutter ihm einmal erzählt hatte, dass alle Schneeleoparden am Ende ihres Lebens zu Sternen werden. Die Flecken auf ihrem Fell bereiteten sie ihr Leben lang darauf vor. Ein Fleck für jeden Stern, ein Stern für jeden Schneeleoparden, so ist es seit jeher vorgesehen.

»Wirst du auch ein Stern werden, Mama?«, hatte er gefragt, und seine Stimme hatte vor Furcht leicht gezittert. »Natürlich, Schan«, hatte sie leise und liebevoll geantwortet, »eines Tages werde auch ich ein Stern sein. Dann siehst du mich dort oben funkeln.«

Ja, dachte Schan, als er das kleine Stück Himmel betrachtete, das sich über ihm auftat, die Sterne dort oben, die Schneeleoparden, die einst hier unten gelebt und alle die erste Prüfung bestanden hatten, sie waren genauso reglos wie er selbst. Sie gehörten zu ihm, und er gehörte zu ihnen. Schan merkte, wie seine Augenlider schwer wurden. Er erwachte erst, als sich ringsumher die Geräusche erhoben, die immer mit der Dunkelheit einhergehen. Erfolglos versuchte er zu erraten, welch seltsame Lebewesen sie ausstießen.

Leseprobe-07-tmbAls die Sonne ein neues Reich errichtete, das wie alle vorherigen brüchig sein würde, sah Schan, wie sich Schneeflocken vom Himmel lösten und nach und nach den Boden vor seiner Mulde besprenkelten. Er fuhr seine Zunge aus und leckte an dem willkommenen Nass.

Dann entdeckte er den Gefiederten. Sorglos tapste dieser direkt vor seinem Versteck herum. Schan leckte sich das Maul. Alles in ihm wollte sich auf die Beute stürzen, die direkt vor seiner Nase im Schnee herumstocherte. Sein Magen sendete Hungerimpulse durch seinen Körper. Seit zwei Sternenrunden hatte er nichts mehr gefressen. Sollte er schummeln und sich den Gefiederten schnappen? Bei der allmächtigen Schneelawine, er müsste sich nur kurz strecken, seine Pfote ausfahren und die Krallen ins Fleisch des Erschrockenen schlagen!

Schan spannte den hungernden Körper bis zum Äußersten an. Die Gelegenheit war günstig wie nie: Wann spazierte einem schon mal ein Gefiederter direkt vor der Nase herum?

Doch dann kam Schan in den Sinn, dass er ja nicht wusste, was seine Mutter in diesem Augenblick machte. Schlief sie vielleicht längst, oder war sie auf der Pirsch? Schlug sie sich in der Höhle hinter ihm den Bauch voll, während er hier hungerte? Oder – und bei diesem Gedanken fuhr Schan ein Schauer über den Rücken – stand sie vielleicht direkt hinter ihm, die Augen fest auf ihren Sohn geheftet?

Als der Gefiederte aus seiner Reichweite hopste, wusste Schan, dass seine Mutter recht gehabt hatte: Ja, er hasste sie dafür, dass sie ihm das antat. Er hasste sie, weil sie ihn in die Unsicherheit gestoßen hatte, statt ihn gegen einen der Grauen kämpfen zu lassen. Er hasste sie, weil sie ihn in dieser engen Mulde elendig hungern ließ. Er hasste sie, weil sie ihn offensichtlich vergessen hatte. Ihn, ihren eigenen Sohn, hatte sie verstoßen.

So badete Schan eine Weile in immer neuen Wellen des Hasses, ehe er, als die ersten Sterne bereits wieder ihre Position am Himmel bezogen hatten, von einer absoluten Verlassenheit heimgesucht wurde. Was wäre, wenn seine Mutter wirklich niemals zurückkäme? Wenn sie längst fortgegangen war und ihn hier drinnen verhungern lassen würde? Hatte sie sich in der vergangenen Zeit etwa nicht seltsam verhalten, hatte sie ihn nicht immer wieder weggestoßen? Ja, bestand er die Prüfung vielleicht gar nur dadurch, dass er sich gegen ihre Autorität auflehnte und aus diesem Loch herauskroch? Doch dann fiel es ihm wieder ein: Keinen Lidschlag früher würde die Prüfung zu Ende sein, als zu jenem Zeitpunkt, an dem sie ihn hier abholte. Und er, Schan würde ihr schon zeigen, wie lange er ausharren konnte!

Leseprobe-08-tmbTrotzig reckte er den Kopf nach vorn, während die Sterne über ihm ihr immer engmaschigeres Netz aus Lichtern knüpften. Mit jedem neuen Punkt dort oben entspannte sich Schans Körper. Zuerst legte er seinen Kopf auf den Vorderpfoten ab. Dann entspannten sich seine Beine. Sein Atem wurde ruhig und regelmäßig. Doch Schan schlief nicht, er war hellwach wie nie zuvor. Nach und nach leerte sich alles in ihm. In seinem Kopf wurde Platz gemacht. Er spürte, wie eine neue, noch nie gespürte Kraft in ihn strömte. Der Hass und der Hunger, die Angst und alle Gedanken verließen ihn; sie überließen einer umfassenden Zufriedenheit das Feld. Ohne es zu merken, begann Schan zu lächeln, und er lächelte noch immer, als die Sterne hinter der Sonne erneut ins zweite Glied rückten. Er befand sich abseits von Raum und Zeit und wünschte sich, dass diese Herrlichkeit niemals enden würde. Nie zuvor hatte er sich so rein, so voll wunderbarer Kraft gefühlt!

»Geduld«, hörte er plötzlich die Stimme seiner Mutter direkt hinter sich, »sie allein kann dich am Ende satt machen!«

Er zuckte zusammen und spürte gleichzeitig, wie ein Schmerz durch seine Glieder fuhr.

»Langsam, mein lieber Schan, langsam«, ermahnte sie ihn. »Streck dich zuerst einmal ordentlich.«

Als er schließlich aus der Höhle kroch, erwachte der Hunger mit Macht in seinem Körper. Wortlos legte seine Mutter einen getöteten Gefiederten vor ihm auf dem Boden ab. Es war jener, der so unvorsichtig vor seiner Höhle herumgetappt war.

»Den hast du dir verdient, Schan. Herzlichen Glückwunsch, du hast die erste Prüfung bestanden!«

Was folgte, war reine Lust. Seine Mutter war wie ausgewechselt, sie tollte mit ihm im Schnee herum und überließ ihm zuweilen die Jagd auf Gefiederte, während sie ihm neugierig dabei zusah. Mit jeder Wiederkehr wurde die Sonne ein bisschen stärker. Hocherhobenen Hauptes kehrte Schan einige Male zum Felsendach zurück, einmal legte er sich gar wie zur Probe darunter und merkte, dass er gewachsen war seit dem letzten Mal, die Mulde war zu eng für ihn geworden.

Alles hatte seine Ordnung, und fast hätte er vergessen, dass drei weitere Prüfungen auf ihn warteten, ehe er nicht mehr Schan sein würde.

Thomas Bauer: Nurbu - Im Reich des Schneeleoparden

Erschienen 2011 im Wiesenburg Verlag

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Über das Buch

Mit dem Ruf »Mush! Mush!« treiben die Jäger in Nordostgrönland ihre Schlittenhunde zu Höchstleistungen an. Reisebuchautor Thomas Bauer ist mit ihnen gezogen. Auf siebzig Grad Nord begleitet er den Inuit-Musher Inuuta, zieht auf Schneeschuhen über das Packeis, nimmt an einer traditionellen Robbenjagd teil und lernt Eisbärfleisch schätzen.

Eindringlich erzählt Bauer, wie er in eine Jägergesellschaft am Rand der bewohnbaren Welt eintaucht, die viele ihrer uralten Sitten und Gebräuche in die heutige Zeit hinübergerettet hat. Er lässt berühmte und weniger bekannte Polarforscher, die Ostgrönland geprägt haben, zu Wort kommen und versucht zu ergründen, was sie in die frostige Einöde getrieben hat. Spektakuläre Bilder illustrieren Bauers Abenteuerbericht aus einer Region, die sich größtmöglich von der europäischen Zivilisation unterscheidet und gerade darum zum Sehnsuchtsort der Abenteurer und Fernsüchtigen geworden ist.

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